Samstag, 24. Oktober 2020

Flying Cowgirl

 

Plötzlich die Farben grün und blau. Sattes Gras, regennass, ganz nah. Außerdem sehe ich angewinkelt in der Windjacke meinen Arm. Dumpfer Schmerz durchzieht mich, sobald ich den Kopf anhebe. Es tut weh. Was ist los? Was ist passiert?

 

Montags beginne ich die Woche meist im Grünen. Mit dem Ausflug zu „Bonnies Farm“ erlebe ich schon ein erstes Highlight der Woche.

Verschlafen trottet „mein“ Isländer auf mich zu. Die Haare strubbelig, der Pony über den Augen. Er lässt sich Zeit. Erst einmal trinken, scheint er zu denken, minutenlang steht er an der Tränke. „Na komm, los.“ Die Therapeutin schnalzt mehrmals mit der Zunge und zieht das Pferd in meine Richtung. Es gibt nach, wartet geduldig bis ich aufsitze. Im Wald kommt es langsam in die Gänge, läuft mit mir die übliche Runde. Nach einer halben Stunde beschleunigt der Isländer, die Einheit ist fast beendet. Zur Koppel fehlen noch ein wenige Schritte, doch er bleibt stehen, reißt abrupt den Kopf hoch. „Ganz ruhig, Großer ...“, beruhigt die Therapeutin, „das ist nur ein Schirm, den hast du doch vorhin schon gesehen.“ Zungenschnalzend steht sie vor ihm, hält den Halfter fest und eng. „Komm, alles gut“. Was folgt, bekomme ich nicht mit. Erst im Gras dämmert mir: Er hat mich abgeworfen. Mein Pferd, mein nicht wirklich schönes Pferd, der dicke, der knuffige Isländer ist ohne mich weitergelaufen. Und ich, ich bin vom Pferd gefallen.

Gefasst, seltsam ruhig überprüfe ich, ob Arme und Beine sich bewegen lassen. Erleichte­rung in dieser Hinsicht, aber der dröhnende Kopf? Denke an die väterlichen Ängste, der seine Teenietochter nicht reiten lassen wollte. Zu gefährlich, er kenne jemanden, der getreten wurde und nun querschnittsgelähmt sei. Auch den Schädel könne man sich brechen, das Genick, Tod oder Schlaganfall … Nein zu gefährlich, keine Diskussion.

Jahre später kam ich dann doch zum Reiten. Um den Mädchentraum umzusetzen, musste ich erst das eintreten, was mein Vater gefürchtet hatte. Seit Jahren mache ich Hippotherapie, um Lähmung und Steifigkeit in Beinen und Rumpf zu mildern. „Das wird Ihnen guttun“, sagte der Arzt als er mir zu dieser Form der Physiotherapie riet. „Das Pferd ist warm und groß,“ höre ich noch heute seine beschwörenden Worte. Nun sitze ich stolz zu Ross, genieße das Gefühl, hoch über dem Boden zwischen Bäumen und Büschen durch den Wald zu gleiten. Doch Pferde sind Lebewesen, Lebewesen, die trotz ihrer Größe zu Angsthasen werden, wenn ein schwarzes Monster im Gehege lauert, z.B. mein aufgespannter Regenschirm.

 

Seit Wochen rauschte ich beseelt durch die Tage. Es ist es Sommer. Warm und weich erscheint die Welt. Alltag schwindet in Abendstimmungen. Die Sonne lässt sich Zeit, in die Ostsee zu tauchen. Zauberhaft leuchtet rosa der Abendhimmel an der Havel, hinter baumgesäumtem Ufer am Plötzensee.

 

Einfach einen Moment liegen bleiben, möchte ich, bitte nicht bewegen. „Hier gibts nichts zu sehen“, die Stimme der Therapeutin, „einfach weitergehen. Hilfe ist unterwegs.“

Vorsichtig werde ich auf einer Art Luftmatratze geborgen und mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Nach der Erstdiagnose Entwarnung. Kopf unverletzt. Die folgenden Stunden bestätigen: keine äußeren und inneren Verletzungen. Eine Frage begleitet die Untersuchungen. „Wie passt das zusammen, reiten und Rollstuhl“, wunderte sich bereits der Rettungssanitäter an der Koppel.

Nun, eine Woche später ist außer einer dicken Schramme nichts geblieben. Welch ein Glück ich hatte … 1000 Schutzengel an meiner Seite. Wie fragil, wie zerbrechlich so ein Körper ist, und wie unbewusst ich oft durchs Leben rausche.

Nun Entschleu­nigung, bedingungslos. 

Aufs Pferd werde ich mich wieder setzen – später, und mit Helm.

 

 

Donnerstag, 2. April 2020

# Risikiogruppe

Auf der Straße wenig Verkehr, kaum Menschen, keine Alten beim Einkaufen. Keiner unterwegs. Keine lachenden Jugendlichen in Gruppen. Die Geschäfte, Imbisse und Kioske geschlossen. Stiller ist es.
Sonntagnachmittag in einer Kleinstadt die Luft an der Kreuzung Ecke Badstraße hinter Gesundbrunnen nicht nur sauber sondern rein..

Wie geht es dir?, erkundigen sich die Freunde. Bist du gut versorgt? Bin ich danke, ja. Mit der Frage sorgen sie sich, ob der Assistenzdienst da ist wie immer. Ja, sind sie. Ich bin versorgt.
Seit Corona hat sich kaum etwas geändert bei mir. Erstaunt blicke ich auf das Leben da draußen. Ausgebremst. Alle. Das kenne ich.
Willkommen in meiner Welt.

Mein Alltag funktioniert gut, alles wie sonst, nur gedämpfter. Die gewohnte Organisiererei, dass alles läuft, wenige der vielen üblichen medizinischen Termine: der Gang zur Physiotherapie mein Kontakt zur Außenwelt. Viel zuhause war ich aus gesundheitlichen Gründen oft genug. Doch im Moment erscheint alles irreal. Glaube mich im Film.
Ein Science Fiction mit Killervirus.

Die tödliche Infektion gibt es auf der ganzen Welt. Sie ist nicht mehr irgendwo weit weg. China, Afrika… Nein sie ist hier, in Europa. Katastrophale Bilder. Notstand. In Italien und nun auch Spanien sterben Tausende an Lungenentzündung.
Die Gefahr: niedliche runde Kugeln mit rosa Klobürsten-Pomps.

Sollte ich mehr besorgt sein?! Bin in der Gruppe.


Dienstag, 10. Juli 2018

Mein Meer. Sehnsuchtsort und mehr

Mein Meer: Sehnsuchtsort und mehr

„Bello … coco … coco … bello“, klingt eine Stimme über den Strand. „Bello … coco 
coco … bello“. Die Rufe kommen näher. Ein in Tücher gehüllter alter Mann stapft  mit seinem Esel, einen Kübel in der Hand am Meer entlang. Gleißendes Licht, die Luft vibriert. Im Schatten der Sonnenschirme spielen weiter oben ruhig wir Kinder. Ich springe auf und in kleinen Schritten über den heißen Sand. Wir scharen uns um den Esel, an dem ein Korb mit Kokosnuss-Spalten hängt, und den Mann. Für 500 Lire nimmt er ein Stück aus dem Korb, taucht es in den Kübel gekühlten Wassers, und wir rennen schnell zurück nach oben.

Mein Meer ist die Adria und das Italien meiner Kindheit, Meer und Europa sind für mich: eine Idylle aus Siebziger-Jahre Bildern und nie endenden Sommern. Hinter der Kindheits-Erinnerung liegen bereits viele Themen, für die Meer und Europa stehen, und die mir die Ausstellung "Europa und das Meer“ im DHM vor Augen führte. Europa und das Meer bedeuten Gefahr und Armut, Ausbeutung und Ausgeschlossen-Sein.

Ein beeindruckendes Plakat wirbt seit einigen Wochen an den Berliner Straßen für die Ausstellung. Immer wieder kommt mir das Motiv in den Sinn: Gustave Corot zeigt auf seinem Gemälde die Kraft und Gewalt des Meeres. Mit dem Wogen und Rauschen im Hinterkopf reise ich von der Antike bis in die Gegenwart durch die verschiedenen Themen der Ausstellung, sehe die Gefahren und Mythen der Seefahrt. Neben dem Eroberungsdrang der Europäer stehen die Kehrseiten Tod, Sklaverei und Ausbeutung. Heute heißen sie: das Ersticken der Meere im Plastikmüll und die Gefahren, denen sich Menschen bei der Flucht über das Meer nach Europa aussetzen.

Für uns Europäer bildet das Meer seit dem beginnenden Tourismus Anfang des 20. Jahrhunderts den Sehnsuchtsort von Urlaubern. Ein Sehnsuchtsort, der auch mein Leben begleitet. Als Rollstuhlfahrerin ist mir allerdings der Zugang zum Meer selten möglich. Im Meer sein und schwimmen kann ich meist nicht, da strukturelle Voraussetzungen wie barrierefreie Strände kaum vorhanden sind. Angesichts der momentanen Katastrophen, angesichts von Menschen, die zu Tausenden auf der Flucht nach Europa ertrinken, und der Diskussion um „Ausschiffungsplattformen“ wirkt mein Wunsch nach mehr Partizipation am Meer unangemessen.

Blog zu "Europa und das Meer“, eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM)

Montag, 9. Juli 2018

Heimat - immer ein bisschen ding

Ich liebte es, im Sommer auf der Terrasse des Hotelrestaurants zu sitzen. Das elegante Restaurant einmal durchquert, gelangte man über ein paar Stufen auf eine große Terrasse. Immer etwas Besonderes die Abende dort mit meiner Großmutter.
Unter uns die Lichter der Kleinstadt. Der Anblick friedlich und vertraut.

Mit dem Jugendfreund blicke ich auf die Lichter. Mittlerweile ist die wellige Rasenfläche, die sanft den Blick nach unten begleitete, begradigt. Die Terrasse klein, eng und gewöhnlich, der erinnerte Zauber vergangen.

Seit 20 Jahren lebe ich fern der Region, in der ich aufwuchs. Dort wollte ich nur eins: weg! weg! raus der süddeutschen Kleinstadt, in einer großen Stadt leben.

Doch seit einem Jahr war sie auf einmal da. Eindringlich sehnte ich mich nach Süddeutschland, Heimat. Eine Sehnsucht, die sich zunächst nur kulinarisch bestimmen ließ. Nach Jahren, in denen fremde Küchen, vor allem die italienische, gleichbedeutend waren mit Genuss, überkam mich eine Lust auf Brezn, Leberkässemmeln, Obatdzn …

Serien, die das München meiner Kindheit und Jugend wachrufen, stützten diese Sehnsucht. Das Leben der Künstlerclique in Edgar Reitz' Zweiter Heimat ruft das Sehnen der Jugendlichen nach einem anderen Leben wach. Ein Leben kreativ im Kreis von Freunden - letztlich auch dieses tragisch. Befreiender und eigene Fernseh-Erinnerung sind die Geschichten um Monaco Franze, den ewigen Stenz.
Immer das Gschieß mit der Elli“ wird über Wochen mein augenzwinkernder innerer Kommentar zu allem, was den meinen Alltags beeinträchtigt. „Immer das Gschieß“ mit den Aufzügen, sage ich mir, sehe ich schon von Ferne den roten Aufkleber, der signalisiert dass sich die Türen nicht öffnen werden, und ich zu spät komme. „Immer das Gschieß“ mit dem steifen Bein, seufze ich, weigert es sich wieder einmal, das zu tun was ich möchte.
Immer das Gschieß mit …“ wurde zur erleichternden Haltung, die jeden Konflikt auf Distanz rückt.

Eine Reise über Pfingsten nach Italien mit einer, mir bis dahin unbekannten Gruppe aus meiner Region, stellt die Sehnsucht nach der alten Heimat in Frage. Wie vertraut der Klang der Sprechweise, gerade heraus, selbstsicher und behäbig. Doch schon in den ersten Tagen wird klar: die Direktheit nervt. Ob die Kleidung angemessen, ob die Reise mit einem zweimonatigen Säugling angezeigt, und wie der Verlauf meiner Erkrankung einzuschätzen ist …, alles wird kommentiert. Ungefragt. Plump

Bei meiner Heimkehr empfangen mich italienische Temperaturen auch hier. Ich bin zurück. Heimat ist, wenn ich den Fernsehturm sehe.

Freitag, 6. Juli 2018

tüchtig tüchtig


Die U-Bahn stoppt. Sie kommt fast direkt neben dem Aufzug zum Stehen. Gut berechnet, denke ich erleichtert. Später als geplant bin ich in die Bahn gestiegen. Doch die kam pünktlich und ich sollte rechtzeitig ankommen. An dieser Haltestelle muss ich nur noch eine Etage nach oben und in die Straßenbahn umsteigen. Den Rollstuhl zur Tür gedreht und ich rolle auf den Bahnsteig. Ältere Männer, kräftige Männer, junge schlaksige Männer, und eine füllige Mutter mit Kinderwagen und Kleinkind im Schlepptau - dunkle Schemen drängen auf dem morgendlichen Bahnsteig Richtung Ausgang. Sie schieben und nehmen mir die Sicht. Erst als ich direkt vor dem Aufzug stehe, sehe ich rot leuchtend den eckigen Schalter an der Tür. Dunkelrot strahlt ein roter Kreis mit weißen Balken über dem Ruf-Schalter. Die morgendliche Fahrt ist erst einmal beendet. Der Aufzug ist außer Betrieb. 

In Sekundenbruchteilen überschlage ich die Lösungsmöglichkeiten. Weiter- oder zurückfahren und an einer anderen Station umsteigen? Dann komme ich viel zu spät zu der Weiterbildung im TÜCHTIG (Berlins erstem inklusiven und barrierefreien Coworking Space). Also mutig doch auf die Rolltreppe und weiter, tüchtig.

Berlin beansprucht für sich das Signet „Barrierefreie Stadt“. In den letzten Jahren hat sich in dieser Hinsicht viel getan. Ich bin seit gut 20 Jahren mobilitätseingeschränkt und beobachte die Fortschritte zur barrierefreien Nahverkehr in Berlin. Bis 2023 wollen die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) barrierefrei sein. Momentan sind 104 von 177 U-Bahnhöfen, bei der S-Bahn 156 (von 166) über einen Aufzug oder Rampen barrierefrei ausgebaut. Bereits jetzt sind die Busse mit Rampen ausgestattet, die meisten Straßenbahnen fahren mit sogenannten Niederflurwagen und halten auf höher gelegten Bahnsteigen. Es gibt eine BVG-App, über die Fahrten barrierefrei geplant werden können. Hier oder unter www.brokenlifts.de lässt sich überprüfen, welche Aufzüge wo defekt sind. Diese tools leben von der Mitarbeit vieler und nicht immer sind sie auf dem aktuellen Stand. Von dem kaputten Aufzug an diesem Morgen stand dort nichts.

Sich im Rollstuhl zu bewegen, muss gut geplant sein, und immer mindestens ein Plan B im Hinterkopf. Dazu kommen die üblichen Unannehmlichkeiten und Unwägbarkeiten, die immer mitgedacht werden. So halte ich auch während der restlichen Metern zum TÜCHTIG Ausschau nach Scherben und Rissen im Pflaster. Denn  ihnen muss ausgewichen werden, will man einem Platten vermeiden oder nicht in einem Loch abrupt hängen bleiben. Von Hundekot, anderem ekligem Unrat, in die man möglichst nicht rollt, gar nicht zu sprechen. Auch nicht von den Gerüchen, mit denen man in der niedrigen Sitzposition im Rollstuhl konfrontiert ist.